Osttibet

Von Kunming fahre ich mit dem Schlafbus nach Shangri-La, das dauert 13 Stunden. Schlafbus bedeutet tatsächlich, dass hier jeder ein Bett hat. Ich schaffe es irgendwie, ein bisschen zu schlafen, trotz dem penetranten Fuss-Geruch und den immer wieder brechenden Leuten. Nicht zuletzt deshalb ist es gut, das obere Bett zu haben und man wird auch weniger von Spucke und Zigarettenstummel getroffen. Ich glaube, ich könnte 100 Jahre hier leben ohne mich an das ewige Gehupe und die Spuckerei zu gewöhnen!

 

Ich fahre mit drei Deutschen, welche in Kunming studieren und wir finden eine sehr charmante Unterkunft mitten in der Altstadt. Diese ist zwar recht touristisch, aber sie existiert mindestens noch und wurde nicht wie sonst üblich durch charakterlose Betonbauten ersetzt. Der Ort liegt auf 3600 Metern und in der Umgebung gibt es viele Bergseen, heisse Quellen und Klöster, welche wir mit dem Velo erkunden können. In einem der Klöster gibt es einen grossen, goldenen Turm, welchen man drehen kann, das ist dann so etwas wie beten. Ich versuche mit aller Kraft, diesen alleine zu drehen und plötzlich reagieren alle, als hätte ich eben eine Porzellan-Vase fallen lassen. Falsche Richtung! Ich muss ziemlich viele Runden in der richtigen Richtung drehen, bis ich das heraufbeschworene Unheil abgewendet habe. Weiter sollte man niemlas über die hohen Türschwellen stolpern, diese sind nämlich dazu da, die bösen Geister zu Fall zu bringen. Stolpert nun ein Sterblicher darüber, ist das gar kein gutes Zeichen. In Shangri-La gibt es eine ziemlich grosse „Langnasen“-Gemeinschaft und dementsprechend weit mehr schöne Café’s als Touristen.

Ich erhalte den Tipp, noch weiter nach Norden bis an die Grenze Tibets zu fahren und dann dem Yangtse-Fluss, dem drittlängsten Fluss der Erde, nach Süden zu folgen. Ich lasse mich überzeugen, obwohl ich weiss, auf was ich mich einlasse. Es sind zwei 4000er Pässe zu überwinden, der eine ist locker, da ich schon in grosser Höhe starte, der zweite wird der mit Abstand Längste meiner Tour sein. Von der Brücke im Haupttal bis zum Pass sind es gut 2800 Höhenmeter, die Strasse steigt auf 66 Kilometer fast immer steil an. Und die Täler sind wild, die Strasse in endlos gegen den Himmel ansteigende Steilwände gehauen. Ewig schraubt sich die Strasse empor, an einer Stelle kann ich die nächsten 10 Stunden Aufstieg überblicken. Im Vergleich mit diesen Tausende von Kilometern perfekt ausgebauten Passtrassen erscheinen unsere Schweizer Passstrassen wie aus dem Legoland: Nach Lhasa wären es noch knapp 2000 Kilometer, ebensoweit in eine andere Richtung zur nächst grösseren Stadt. Zum Glück bin ich inzwischen recht fit, so überhole ich einen Chinesen mit einem ultraleichten Velo und mit nur ein paar Kleidern beladen (er will nach Lhasa – für ihn als Chinesen ist das kein bürokratischesProblem) und sehe ihn erst am nächsten Tag wieder. Er hat das Velo auf einen Lieferwagen geladen. Auf dem Pass ist die Aussicht grandios und es gibt diese tibetischen Gebetsfahnen, welche einem den Eindruck geben, nicht bloss auf 4300 Meter sondern auf dem höchsten Punkt der Erde zu stehen. Leider werde ich von einem Hagelschauer verprügelt und die Sicht auf einen der wichtigsten Berge Chinas, den Meili Snow Mountain, ist fast immer völlig verdeckt. Ich muss warten, bis die vielen kleinen Kugeli (Hagelkörner) von der Strasse verschwunden sind, dann beginnt die Abfahrt.

Und hier zeigt sich die einzige kleine Schwäche meines Velos. Ich habe eine Nabenschaltung, das bedeutet, dass die Technik wie bei den alten 3-Gang Velos in einer Kapsel im Hinterrad eingebaut ist. Diese Kapsel ist mit Öl gefüllt und wenn ich in grosse Höhen komme, baut sich darin ein Überdruck auf, das Öl läuft aus und über meine hintere Felge. So starte ich bei diesen hohen Pässen jeweils mit gut geölten Bremsen ins Rennen! Aber so schlimm ist es nicht, 1. wäre die vordere Bremse ausreichend, 2. ist das Öl nach ein paar 100 Meter weg und 3. ist bremsen sowieso etwas für kleine Mädchen.

Nebst der Berglandschaft ist diese Region für das gute Essen bekannt. Ich gehe oft in den kleinen Restaurants essen. Die Bestellung ist nicht immer einfach, meistens gehe ich allen in den Teller gucken und tippe dann auf das, was ich will. Nicht immer funktionierts und dann wird es spannend. Hie und da bringen sie mir einfach irgend etwas, der Preis und das Essen sind dann immer OK. Aber manchmal begreifen sie einfach nicht, dass ich nichts begreife und so halten sie mir wie neulich ein A4 Blatt voll mit chinesischen Zeichen vor die Nase und lassen nicht locker, bis ich auf etwas getippt habe. Im konkreten Beispiel bestelle ich die Bouillon für Fondue Chinoise. Man bringt mir einen riesigen Topf voll mit Gemüsebouillon, dazu etwas Nudeln und Gemüse, welches gleich in den Topf geworfen wird. Etwas ratlos beginne ich, das Zeugs wieder herauszufischen. Da kommt einer vom Nachbartisch und bringt mir sein Fleisch, zeigt, wie man das isst und verschwindet einfach. Erst jetzt realisiere ich, was ich bestellt habe und will mehr Fleisch bestellen, mache das Zeichen für Hörner und Muh-Geräusche, aber immer mehr Leute bringen mir ihr Essen, ich soll dies und jenes auch versuchen und so bezahle ich am Ende nur die Bouillon. Oder gestern habe ich nach langen Verhandlungen irgend eine Nudelsuppe erhalten. Danach war ich immer noch hungrig und drei Tibeter am Nachbartisch (hier sind 80% der Einwohner Tibeter) erhalten wunderbar aussehende Gerichte mit Fleisch und Gemüse. Ich rufe den Koch und zeige auf ein Gericht und die Reisschüssel. Sofort werde ich eingeladen, mich an den Tisch zu setzen und mitzuessen. Es wird noch einiges mehr serviert und alles ist wirklich sehr fein, nichts mit Hund, Käfern oder halb ausgebrüteten Eiern! Bevor ich reagieren kann, ist alles bezahlt. Sogar meine vorherigen Sachen, inklusive dem warmen Bier, welches hier besonders teuer ist! Ein Grund für die häufigen Einladungen liegt darin, dass ich in die einfachen Lokale der Einheimischen gehe, ein Anderer sicher auch darin, dass die Chinesen nie alleine essen und sie es offenbar schlecht ertragen, wenn ein Anderer das tut. Angenehm ist, dass die Gastgeber meist schnell einsehen, dass ich kein chinesisch kann und reden dann einfach untereinander, ich höre den fremden Klängen dieser Diskussionen gerne zu.

Und wenn wir schon beim Essen sind: Yak-Fleisch und Tee oder noch besser Whisky mit Yak-Butter sind sehr wohlschmeckend, letzterer ein bisschen gefährlich. Das Yak ist ein wunderbares Tier, solange es nicht auf der Passtrasse mitten im Weg steht und nicht so genau weiss, auf welcher Seite er mir unters Velo liegen will!

Gestern hat mich die traurige Nachricht vom schlechten Gesundheitszustand meines Grossvaters erreicht. Er ist schwer krank ins Spital eingeliefert worden, man muss damit rechnen, dass er verstirbt. Das hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Im ersten Moment wollte ich gleich nach Hause fahren, er ist mir extrem wichtig, ich hatte schon immer ein sehr inniges Verhältnis zu ihm. Eine meiner grössten Befürchtungen vor der Reise war, dass genau so etwas passieren könnte. So nahe beieinander können Glücksgefühle am Nachmittag auf dem Pass und grosse Trauer am Abend liegen. Ein einziges SMS… Mindestens habe ich ihm vor meiner Abreise noch vernünftig Ade sagen können, wenn auch mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Ich habe mich nun nach Rücksprache mit meiner Familie dazu entschieden, meine Reise fortzusetzen, auch wenn mein Baba sterben wird. Ich kann zu Hause nichts für ihn tun.