Im Yangtse-Tal

Aktualisiert Samstag, 12. September 2009 um 17:54 Uhr

Ich bin festgefahren, die Strasse ist für drei Tage gesperrt. Deshalb melde ich mich etwas früher als auch schon. Zudem ermuntern mich die vielen Reaktionen zum Schreiben, ihr seid also selber schuld! Aber danke, ich freue mich, die Reise teilen zu dürfen! Und es muss ja niemand  mein Gliir lesen, es gibt keine Prüfung wenn ich wieder da bin!

Recht unmotiviert starte ich in Deqin, 570 Kilometer dem Fluss entlang abwärts. Das sollte eigentlich locker werden, aber denkste: Gegenwind und ein Pass nach dem Anderen, immer von einem Seitental ins nächste. Zudem habe ich mir jetzt endlich eine genauere Karte mit Distanzangabe gekauft und nicht schlecht gestaunt. Es ist viel weiter, als ich gedacht habe, der Schlussspurt muss also jetzt beginnen! Einmal muss ich stoppen, um ein bisschen zu fluchen, als es schon wieder rauf geht. Am liebsten würde ich den Göppel die Steilhänge runterschmeissen. Nach dem ersten Tag kann ich aber den Schalter umkippen und es wieder geniessen. Singen tue ich während der Abfahrt nicht mehr, die Schluchten sind wirklich Respekt einflössend. Dann die erste Strassensperrung, ich realisiere es aber erst nach der Baustelle, welche weit oberhalb ist, aber Steinschlaggefahr verursacht. Nun weiss ich, was die zwei Typen vorhin von mir wollten. Nochmals gut gegangen. Bei der zweiten Sperrung am nächsten Tag muss ich fast drei Stunden warten, was der Baggerführer da für Kunststücke vollführt, ist aber Unterhaltung genug. Bei der dritten Sperrung werden die Arbeiten gestoppt, damit die Langnase durch kann, man macht aber bedenkliche Gesichter. Ich verstehe nicht warum, die Strasse ist gut und Steine kommen keine geflogen. Nach 10 weiteren Kilometern eine provisorische Stadt, welche für die Bauarbeiten einer Brücke und eines Kraftwerkes aufgestellt worden ist. Mehrere Barrieren sind geöffnet, die Letzte nicht mehr. Die Baustelle ist gut sichtbar, sie ist riesig und es gibt keine Möglichkeit, da lebendig durchzukommen. Wieder wird weiter oben eine Strasse gebaut und es kommen Kubikmeter grosse Felsbrocken geflogen oder gerollt. Das ganze Tal ist eingestaubt. Der Typ, welcher an der Barriere in einer lausigen Baracke wohnt, will mittels Dictionnaire behaupten, dass die Strasse drei Tage gesperrt sei, die Arbeiten rund um die Uhr stattfinden und es keine andere Strasse gibt. Letzteres glaube ich ihm, den Rest will ich gar nicht. Ich fahre wieder in die Stadt, ein elendes Drecksloch. Und überall dieselbe Antwort. Das ist in China ein schlechtes Zeichen. Einer, der etwas behauptet, bedeutet noch gar nichts. Wenn aber vier oder mehr das Gleiche sagen, ist der Wahrheitsgehalt WAHRscheinlich gross. Es gäbe einen Pfad für Schafe, noch weiter oberhalb, mit dem Velo unmöglich zu befahren, sagen sie. Also versuche ich, einen Esel aufzutreiben um meine Sachen dem Tier auf den Rücken zu binden. Fehlanzeige, in dieser Bauarbeiterstadt gibt’s keine solche Tiere, nur Hunde und Hühner. Aber von denen auch nicht genug, um sie zusammenzubinden und die Baustelle zu überfliegen! Zudem werden die Schwanzfedern gestutzt, manchmal so unvorsichtig, dass der Darmschliessmuskel auch fehlt, ein eher unappetitlicher Anblick. Ich fahre zurück zur Barriere, biete Zigaretten an, welche ich genau für solche Situationen mit mir führe. Nichts bewegt sich, also lege ich mich neben der Schranke auf meine Zeltunterlage, das hat noch immer geholfen und Abend werde ich dann schon durchkommen. Mein Mittagsschlaf macht den Wachmann ziemlich nervös, er beginnt zu funken während ich auf den Stockzähnen lächle und schon nach wenigen Minuten kommt ein grosser Jeep. Der Neue betrachtet mich ein bisschen und beginnt zu telefonieren. Es dauert etwas länger, dann kommen zwei noch viel grössere, nicht verstaubte schwarze Jeeps mit getönten Scheiben, diese Leute tragen keine gelben oder roten Bauarbeiterhelme mehr. Der Chef der Bande bietet mir Zigaretten an, ein sehr gutes Zeichen! Und einer kann Englisch. Er entschuldigt sich, aber es sei wirklich nichts zu machen. Ich solle ins Hotel und drei Tage warten. Als ich sage, dass ich lieber campen würde, wird alles in die Jeeps verladen, ich könne bei ihnen wohnen. Der Chef der gesamten Baustelle und somit eigentlich der gesamten Stadt sitzt vorne neben dem Fahrer, ich hinten wie ein König(,) vor mich hinstinkend. Als Erstes werde ich geduscht, dann beim Chef erst zum Tee, dann zum Znacht und dann zum Trinken eingeladen. Letzteres ist eine grosse Ehre und man kann viel falsch machen als Gast. Ich weise den Übersetzter, welcher zum ersten Mal an diesem Tisch essen darf, an, mich unter dem Tisch zu treten, wenn ich grobe Fehler mache. Ich trinke aber richtig, was mir den Respekt dieser feinen Gesellschaft einbringt. Das ist hier einfach so. Und während dem Essen spuckt kein einziger auf den Boden!

Das Camp ist sehr gut bewacht und mit hohen Mauern umgeben. Nach dem Essen wird ein Junge hereingelassen, welcher Früchte verkauft. Es ist der Junge, welcher mich am Mittag in der Stadt mit grossen Augen bestaunt hat, während ich seinen Vater nach einem Esel fragte. Mir wird bewusst, dass ich einen sozialen Aufstieg in nur einem Nachmittag erlebt habe, welcher die Arbeiterfamilien ihr ganzes Leben nie schaffen können. Am nächsten Morgen wird ein Büroplatz geräumt, damit ich „arbeiten“ kann und vor allem auch, damit die drei Ingenieure, welche für mein Wohl sorgen, auch wieder arbeiten können. Aber ich kann nicht aufschauen, ohne dass das ganze Büro hohe Sprünge macht. Zigaretten, Kaffee (das ist hier extrem selten und ein grosser Luxus, auch wenn es nur Nescafe ist!), etc werden laufend angeboten. Zwischendurch werde ich zum Ping-Pong herausgefordert und ich schlage mich gar nicht so schlecht. Wahrscheinlich lassen sie mich einfach gewinnen.

Wie ihr an den beschriebenen Strassensperrungen sehen könnt, wird in China unglaublich viel gebaut. Dieses Tal ist sehr dünn besiedelt und besitzt bereits eine super Strasse, durchgehend asphaltiert. Es wird aber eine neue, noch viel grössere Strasse mit vielen Brücken und Tunnels gebaut. An jedem Dorfrand werden neue Gebäude hochgezogen und alle paar Kilometer steht ein Kraftwerk. Das Reisen ist hier auch sonst wirklich sehr interessant, mitunter auch gefährlich.

So hatte einer der deutschen Studenten Muskelschmerzen im Oberschenkel, beschreibt das in der Apotheke (auf chinesisch!) und erhält eine Packung mit nur einer Pille. Was das sei, will er wissen, sie könne leider nicht lesen, (ein verbreitetes Problem) sagt die Verkäuferin, das Mittel sei aber gut gegen Schmerzen. Es erweist sich als „Pille danach“ und dieses Präparat, welches offen im Regal steht, wird selbst in China nicht mehr zur Einnahme empfohlen! Oder auch öffentliche Toiletten sind spannend. Im Häuschen gibt’s einfach einen Graben und wenn beispielsweise der Bus anhält, rennen alle da hin und scheissen gemeinsam ins Loch. Beim blonden Europäer wird natürlich ganz genau studiert wie der das macht und wie die Hinterlassenschaft denn so aussieht. Immerhin musste ich noch nie auf dem Dorfplatz, wo man vom Restaurant aus zugucken kann. Soll ich ein Foto zeigen? Hehe, Rache ist süss!

Man sieht viele Chinesen beim Kartenspiel. Da das Glücksspiel streng reguliert ist und geahndet wird, sieht man kein Geld auf dem Tisch. Aber es geht manchmal um sehr hohe Beträge. So erzählt mir ein in der Schweiz aufgewachsener Tibeter, dass er für wenig Geld eine Lastwagenwerkstatt mieten könne. Von einem, der diese im Glücksspiel gewonnen habe. Man stelle sich das mal vor: „Du Schatz, ich habe eben meine niegelnagelneue Werkstatt verspielt. Ist aber nicht so schlimm, morgen spiele ich wieder!“ Ich behaupte nicht, dass alle um Haus und Hof spielen, das Spielen ist aber wichtig und wird sehr ernst genommen. Der Verlierer hat die Stadt verlassen.

Ein anderes Problem ist der Gesichtsverlust. Fragt man nach dem Weg, darf die Fragestellung keine Ja- oder Nein-Antwort zulassen. Wenn sie es nicht wissen oder mein Anliegen trotz vieler Gesten nicht begreifen, zeigen sie irgendwohin, oft ist da gar keine Strasse. Dazu dieses unsichere Lachen, welches sie sofort verrät. Ich erwarte ja nicht, dass ganz China für mich deutsch lernt, aber ich behaupte, dass hier fast ebensoviel Energie aufgewendet wird um „Fehler“ zu vertuschen, wie es brauchen würde, diesen zu beheben.  

Ich komme im Moment schlecht voran, ich weiss gar nicht, wie ich in Europa und Iran so viele Kilometer ohne weiteres geschafft habe. Ich bin dazu nicht mehr in der Lage, selbst wenn ich wollte. Zudem brauche ich für alles viel mehr Zeit, stelle am Morgen den Wecker immer wieder zurück. Die pflichtbewussten Güggel kann man zum Glück nicht abstellen. Oder nur einmal pro Tier, was dann aber den Besitzer laut werden liesse und auch mit gewissem Aufwand verbunden wäre. Auch die Campingplatz-Suche ist schwierig. Entweder ist das Tal so steil, dass ich das Zelt an einem Hering aufhängen müsste, oder das Land ist ver- oder bebaut. Um sieben ist es dunkel, da will ich nicht mehr basteln. Meine Taktik ist also, dass ich bereits um vier nach dem perfekten Platz ausschau halte, um fünf nehme ich gute Plätze und um sechs alles. Immer wird es deutlich nach sechs, bis ich etwas Schlaues finde. Ein guter Schlafplatz definiere ich übrigens so: 1. Priorität ist eine ebene Stelle, 2. Wasser, 3. Nicht sichtbar von der Strasse und nicht mitten im Dorf, 4. Schöne Aussicht. Oft muss ich hier direkt am Strassenrand schlafen, die 3-4 Autos während der Nacht verkrafte ich.

Nach meiner Fehleinschätzung und dieser Sperrung ist klar, dass ich irgendwo den Bus nehme. Ich will den Flug nicht umbuchen und schon gar nicht will ich mit einem Tetanus-Lachen (Starrkrampf-Opfer sterben mit fratzenhaft verzerrtem Gesichtsausdruck) durch Südostasien stressen, das passt nicht in diese Gegend und hoffentlich auch nicht zu mir!